200 Jahre Kunststoffe im Landkreis Darmstadt-Dieburg

Vom Kammmacherhandwerk zur Kunststoffindustrie

Das Gebiet des im Rahmen der hessischen Gebietsform 1977 entstandenen Landkreises Darmstadt-Dieburg mit derzeit etwa 290.000 Einwohnern in 23 Städten und Gemeinden hat sich in den vergangenen 150 Jahren von einer überwiegend landwirtschaftlich zu einer industriell geprägten Region gewandelt. Von den nahezu 70.000 Beschäftigten im Landkreis ist heute etwa ein Drittel im produzierenden Gewerbe tätig, zu dem auch eine Reihe von Kunststoff und Kautschuk verarbeitenden Betrieben gehört.

Auf Initiative des 2017 verstorbenen Ober-Ramstädter Heimatforschers Otto Weber und mit Förderung durch den Landkreis schlossen sich 2014 die Museen im westlichen Odenwald und dort tätige kunststofferzeugende und –verbreitende Unternehmen zu einer bisher wohl einmaligen „Kunststoffstrasse“ zusammen, die derzeit Stationen in zehn Kommunen hat. Die dort ansässigen Firmen und Museen veranstalteten 2016 erstmals eine „Woche der Kunststoffstrasse“, die mit Vorträgen, Ausstellungen und Betriebsführungen die historische Entwicklung und die heutige Bedeutung dieses Industriezweiges im Landkreis zeigte.

Der Ursprung der Kunststoff verarbeitenden Industrie in Südhessen und dem angrenzenden Odenwald lässt sich auf das Kammmacherhandwerk zurückführen. Schon im 18. Jahrhundert wurden im westlichen Odenwald zunächst aus Schildpatt und Rinderhorn Kämme hergestellt, wobei die Fertigungsmethoden denen der bereits im 17. Jahrhundert entstandenen Elfenbeinschnitzerei ähnlich waren. Graf Franz I. von Erbach-Erbach (1754-1823) übernahm nach dem Studium der Staatswissenschaften und der Altertumskunde in der Schweiz und in Frankreich und einer anschließenden zweijährigen Bildungsreise 1775 die Regierung. Mit einer bis heute berühmten Antikensammlung kehrte er nach Erbach zurück; er gründete 1783 eine eigene Zunft für Holz- und Horndreher, deren erster Obermeister er wurde. Die „Erbacher Rose“ aus Elfenbein wurde 1873 auf der Weltausstellung in Wien prämiert und so weltweit berühmt. 1892 wurde eine Fachschule für Elfenbeinschnitzer gegründet, die inzwischen in Michelstadt bei den beruflichen Schulen des Odenwaldkreises angesiedelt ist. Das 1966 in Erbach eröffnete Elfenbeinmuseum musste zwar aus Kostengründen geschlossen werden, ist aber in verkleinerter Form inzwischen im Erbacher Schloss untergebracht. Das schon im Altertum aus den Stoßzähnen von Elefanten erhaltene Elfenbein wurde aus Gründen des Artenschutzes längst durch Mammut-Fossilien ersetzt.

Im Landkreis Darmstadt-Dieburg kann die Kunststoffbranche auf das seit 1831 in Ober-Ramstadt mit damals etwa 2.000 Einwohnern ansässige Kammmacherhandwerk zurückgeführt werden. Georg Friedrich Heim, der Sohn des damaligen Bürgermeisters, hatte von 1815 - 1820 in Bensheim an der Bergstraße den Beruf des Kammmachers erlernt. Er gründete 1831 einen eigenen Handwerksbetrieb, aus dem 1862 in Ober-Ramstadt die bis heute als Kunststoffverarbeiter tätige Firma G.F. Heim Söhne hervorging, die sich bald zur größten Schildpatt verarbeitenden Fabrik Europas entwickelte. Bei Ausstellungen der Künstlerkolonie Darmstadt 1901 und 1908 war sie mit Produkten nach Entwürfen von Hans Christiansen beteiligt und 1907 auch auf einer Ausstellung in St. Petersburg vertreten.

Kurz vor 1900 wurde dann in Ober-Ramstadt das in der Mitte 19. Jahrhunderts erfundene Celluloid als Rohmaterial eingeführt, das in den folgenden Jahren Horn und Schildpatt verdrängte. Später wurde in Ober-Ramstadt auch Hartgummi (Ebonit) verarbeitet, das durch langwieriges Mischen, Pressen und Vulkanisieren von Naturkautschuk mit hohen Schwefelanteilen (bis ca. 50 Gewichtsprozent) in Form von Platten erhalten wurde. Die Firma Heim wurde bald zum Ursprung weiterer Firmengründungen, so dass es in Ober-Ramstadt um 1900 fünfzehn und in den 1920er Jahren noch zwölf eigenständige Kammmacherbetriebe mit teilweise über 100 Beschäftigten gab, in denen oft die Abgänger ganzer Schuljahrgänge den Beruf des Kammmachers erlernten.

In der Umgebung von Ober-Ramstadt entstanden aus Kammmacherbetrieben weitere Handwerksfirmen: In Pfungstadt beherbergte die Hahnmühle von 1919 bis in die 1980er Jahre die Hessische Celluloid- und Holzwarenfabrik Dietz und Böttcher, die Schirmgriffe, Kleiderbügel, Türbeschläge, Handtaschenbügel und Celluloidröhren für die Herstellung von Schreibgeräten produzierte. In der von Heinrich Schöberl gegründeten Celluloidwarenfabrik Babenhausen (Cellba) wurden von  1924 - 1966 Puppen aus Celluloid und nach dem zweiten Weltkrieg auch aus anderen Kunststoffen hergestellt. Nach 1966 siedelte sich für einige Jahre die amerikanische Firma Mattel mit den amerikanischen Barbiepuppen auf dem Firmengelände an.

Im Landkreis Darmstadt-Dieburg kann die Kunststoffbranche auf das seit 1831 in Ober-Ramstadt mit damals etwa 2.000 Einwohnern ansässige Kammmacherhandwerk zurückgeführt werden. Georg Friedrich Heim, der Sohn des damaligen Bürgermeisters, hatte von 1815 - 1820 in Bensheim an der Bergstraße den Beruf des Kammmachers erlernt. Er gründete 1831 einen eigenen Handwerksbetrieb, aus dem 1862 in Ober-Ramstadt die bis heute als Kunststoffverarbeiter tätige Firma G.F. Heim Söhne hervorging, die sich bald zur größten Schildpatt verarbeitenden Fabrik Europas entwickelte. Bei Ausstellungen der Künstlerkolonie Darmstadt 1901 und 1908 war sie mit Produkten nach Entwürfen von Hans Christiansen beteiligt und 1907 auch auf einer Ausstellung in St. Petersburg vertreten.

Kurz vor 1900 wurde dann in Ober-Ramstadt das in der Mitte 19. Jahrhunderts erfundene Celluloid als Rohmaterial eingeführt, das in den folgenden Jahren Horn und Schildpatt verdrängte. Später wurde in Ober-Ramstadt auch Hartgummi (Ebonit) verarbeitet, das durch langwieriges Mischen, Pressen und Vulkanisieren von Naturkautschuk mit hohen Schwefelanteilen (bis ca. 50 Gewichtsprozent) in Form von Platten erhalten wurde. Die Firma Heim wurde bald zum Ursprung weiterer Firmengründungen, so dass es in Ober-Ramstadt um 1900 fünfzehn und in den 1920er Jahren noch zwölf eigenständige Kammmacherbetriebe mit teilweise über 100 Beschäftigten gab, in denen oft die Abgänger ganzer Schuljahrgänge den Beruf des Kammmachers erlernten.

In der Umgebung von Ober-Ramstadt entstanden aus Kammmacherbetrieben weitere Handwerksfirmen: In Pfungstadt beherbergte die Hahnmühle von 1919 bis in die 1980er Jahre die Hessische Celluloid- und Holzwarenfabrik Dietz und Böttcher, die Schirmgriffe, Kleiderbügel, Türbeschläge, Handtaschenbügel und Celluloidröhren für die Herstellung von Schreibgeräten produzierte. In der von Heinrich Schöberl gegründeten Celluloidwarenfabrik Babenhausen (Cellba) wurden von  1924 - 1966 Puppen aus Celluloid und nach dem zweiten Weltkrieg auch aus anderen Kunststoffen hergestellt. Nach 1966 siedelte sich für einige Jahre die amerikanische Firma Mattel mit den amerikanischen Barbiepuppen auf dem Firmengelände an.

Bemerkenswert, aber weniger bekannt ist, dass ähnlich wie in Ober-Ramstadt in den USA in Leominster, MA, mit dem Spitznamen „Comb City“, eine Kammindustrie entstand: 1853 gab es dort bei etwa 3.000 Einwohnern 24 Kammfabriken mit 146 Beschäftigten. Als Horn knapp wurde, diente auch hier das 1868 erfundene Celluloid als Ersatz; dessen Spritzgießverarbeitung begann Samuel Foster, der 1931 die Firma Foster Grant gründete. Eine zeitgenössische Beschreibung des Kammmacherhandwerks findet sich in der Erzählung „Die drei gerechten Kammmacher“ in Gottfried Kellers Buch „Die Leute von Seldwyla“ (1856):

„Zu Seldwyl bestand ein Kammmachergeschäft, das ein gutes Geschäft war, wenn es fleißig betrieben wurde; denn die Krämer, welche die umliegenden Jahrmärkte besuchten, holten da ihre Kammwaren. Außer den notwendigen Hornstriegeln wurden auch die wunderbarsten Schmuckkämme für die Dorfschönen und Dienstmägde verfertigt aus schönem durchsichtigen Ochsenhorn, in welches die Kunst der Gesellen (denn die Meister arbeiteten nie) ein … braun-rotes Schildpattgewölke beizte …, so dass, wenn man die Kämme gegen das Licht hielt, … man die herrlichsten Naturerscheinungen zu sehen glaubte.“

(Die Technik der Kammherstellung um 1900 beschreibt Gerhardt Hübener in der Zeitschrift „Kunststoffe“,  Band 3, 1913, S. 281-286 und 303-308.)

Automatisiert wurde das Kammmachergewerbe im frühen zwanzigsten Jahrhundert mit sog. Doublier- und Kammstechmaschinen, mit denen jeweils zwei Kämme gleichzeitig aus einer Platte gestanzt wurden, was eine komplizierte Anordnung von Schablonen, Messern und Schienen erforderte, in denen Kammplatten lagen und transportiert wurden, woran sich dann das manuelle Schleifen und Polieren anschloss.

Das Kammacherhandwerk fand im Odenwald und in Amerika beinahe gleichzeitig sein Ende in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts als Folge einer Modelaune. Schon 1915 hatte die amerikanische Schauspielerin und Tänzerin Irene Foote (1883-1969) mit dem angenommenen Name Castle ihre langen Haare gekürzt; die neue Kurzhaarfrisur „bob haircut“ wurde schnell populär, so dass die Hälfte der damals noch 54 Kammfabriken in Leominster wegen des nachlassenden Bedarfs an Kämmen schließen musste. Auch in Deutschland setzte sich der sog. Bubikopf rasch durch; 1921 trat Asta Nielsen in einer Hamlet-Verfilmung mit einer jungenhaften Ponyfrisur auf.
Nach dem Ende des Kammmacherhandwerks, das schon lange kein Lehrberuf mehr ist, wurde Ober-Ramstadt von 1933-1945 ein Zentrum der Herstellung von Winterhilfsabzeichen, die millionenfach aus Galalith (Kunsthorn) gefertigt wurden.

Mit der zunehmenden Motorisierung und der beginnenden Luftfahrt begann nach dem ersten Weltkrieg die Suche nach nichtsplitterndem Glas (sog. Sicherheitsglas). Otto Röhm (1876-1939) hatte sich schon im Jahre 1901 in seiner Dissertation mit der Polymerisation von Acrylsäurederivaten beschäftigt; diese Arbeiten fanden später in der von ihm mitbegründeten Firma Röhm & Haas in Darmstadt ihre Fortsetzung. In den 1920er Jahren entstanden aus den Forschungsarbeiten Polymere aus Acrylsäure und ihren Derivaten, von denen das 1934 unter dem Namen Plexiglas auf den Markt gebrachte Polymethylmethacrylat bald die größte Bedeutung erlangte.

Nachdem sich gezeigt hatte, dass der neue Werkstoff nicht nur als unzerbrechliches organisches Glas für Flugzeugkanzeln, sondern auch sehr gut für Haushaltartikel wie z.B. Salatbestecke oder auch für Schmuck geeignet war, nahmen kleine Handwerksbetriebe im nahegelegenen Odenwald die Serienfertigung von Plexiglasartikeln auf. Die Geschäftsleitung von Röhm & Haas resümierte 1942, als ihr die Lieferung von Plexiglas an die zivilen Verarbeiter verboten wurde: „Aus den kleinen Elfenbeinschnitzern im Odenwald sind im Zuge dieser Entwicklung bekannte Firmen geworden.“ Die betroffenen Betriebe versuchten daher, weiterhin an den wertvollen Rohstoff zu gelangen; sie fertigten z.B. aus den Kanzeln abgestürzter Flugzeuge Schmuck und Gebrauchsgegenstände.

Andere Kammmacher und Holzfederhalterdrechsler im Odenwald wandten sich der Produktion von Schreibgeräten wie Füllfederhaltern, Drehbleistiften und später Kugelschreibern aus Celluloid, Galalith und Ebonit zu. Den Anfang machte die Firma März und Rischer; 1938 folgte die Firma Ernst Rodenhäuser, die 1922 als Elfenbein- und Beinwarenfabrik gegründet worden war. Füllfederhalter fabrizierte auch die Firma F. Meisenbach in Fischbachtal/Niedernhausen. Außerdem entstanden zwei Firmen, die Phenolharze (Bakelit) verarbeiteten und Gegenstände für elektrische Hausinstallationen (Buss & Co.) und die Automobilindustrie (Wacker und Dörr) herstellten.

Interessant ist der in einigen Museen dokumentierte Übergang zum Bakelit. Die Bakelit verarbeitenden Firmen haben ihre Fortsetzung in der Ersatzteilmanufaktur für Mercedes-Benz-Oldtimer von Roland Merz gefunden.
 

Weltweit bekannt ist die 1887 in Spremberg in der Niederlausitz von August Wilhelm Römmler zum Aufbereiten von Abfällen aus der Tuch- und Hutfabrikation gegründete Firma, die ihre Hartpapierlaminate erstmals 1931 auf der Leipziger Frühjahrsmesse unter dem Namen Resopal vorstellte. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Betrieb in Spremberg enteignet und demontiert. In Groß-Umstadt gründete die 1934 in den Besitz von Brown, Bovery & Cie. AG Mannheim übergangene Firma eine neue Fabrik, in der Schichtstoffplatten aus Phenol- und Melaminharzen für den Innenausbau und die Möbelindustrie hergestellt werden. Auch die Firmen PENTAC Polymer GmbH und EMS Chemie stellen in Groß-Umstadt Polyamid- und Polyester-Spritzgießmassen sowie Hoch­leistungs­poly­amide her.

Manche der ursprünglich als Celluloidwarenfabriken gegründeten Unternehmen nahmen später die Verarbeitung von anderen Kunststoffen auf, so z.B. die 1908 von Max Richter aus Leipzig in Nieder-Ramstadt gegründete Firma VITRI: Unter Leitung des 1924 eingetretenen Kaufmanns Wilhelm Euler begann schon 1937 die Spritzgießverarbeitung für den Haushaltswarensektor.

VITRI bot dazu als erste Firma auf der Leipziger Messe 1938 Plexiglasartikel an. Bekannt wurde VITRI auch durch die Zusammenarbeit mit bekannten Designern wie Ernest Igl, aus der die Polystyrol-Gießkanne mit Hammerschlageffekt stammt.

In dem 1732 von Johann Conrad Lichtenberg, dem Vater des Philosophen und Dichters Georg Christoph Lichtenberg erbauten alten Rathaus, das heute das Museum von Ober-Ramstadt beherbergt, werden seit vielen Jahren Werkzeuge, Maschinen, Musterbücher, aber auch Rohmaterialien und Fertigprodukte des Kammmacherhandwerks und der frühen Kunststoffverarbeitung gesammelt. Die ältesten Stücke stammen von  1848: Von dem Kammmacher Karl Breitwieser ist ein reich verzierter und datierter Hornkamm erhalten. 1990 konnte das Museum das Inventar der Werkstatt des letzten Ober-Ramstädter Kammmachers Karl Schwan erwerben. Gezeigt werden auch Maschinen, Halbzeuge und Fertigprodukte aus der 60-Jährigen Geschichte der Firma Weber & Schwinn, die als Kammfabrik gegründet und danach das um 1934 von Röhm & Haas in Darmstadt entwickelte und als Plexiglas bezeichnete Acrylglas verarbeitete und dafür seit etwa 1950 Spritzgießmaschinen betrieb.

Die wichtigsten Rohprodukte der Kunststoffstrasse

Ergänzend zur historischen Darstellung der oben genannten Unternehmen der Kunststoffstrasse werden die wichtigsten der in den vergangenen rund 200 Jahren verarbeiteten Rohprodukte kurz erläutert: Elfenbein, Ochsenhorn, Schildpatt (Keratine – schwefelhaltige Eiweißstoffe); Hartgummi (Ebonit); Celluloid (Cellulosenitrat); Kunsthorn (Galalith); Phenoplaste (Bakelit); Polymethylmethacrylat (Plexiglas); Polystrol.

Keratine

Die als Vorgänger der heutigen Kunststoffe bis etwa 1850 verwendeten tierischen Produkte Elfenbein, Ochsenhorn und Schildpatt bestehen überwiegend aus Keratinen (schwefelhaltigen Eiweißstoffen); sie sind als Naturprodukte im heutigen Sinne keine Kunststoffe; sie können aber insofern als Vorläufer der erst im späteren 19. Jahrhundert entstandenen Kunststoffe angesehen werden, als die meisten von ihnen in der Wärme, d.h. in siedendem Wasser oder unter heißen Pressen, biegsam, also thermoplastisch sind, und die zum Formen angewandten Verfahren wie das spanabhebende Schnitzen, Sägen oder Bohren zu den frühesten Prozessen der Kunststoffverarbeitung gehören.

Celluloid

In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand bei der chemischen Umsetzung von Cellulose mit Salpetersäure das Cellulosenitrat, oft fälschlich auch Nitrocellulose genannt: damit begann das Zeitalter der synthetischen Kunststoffe. Das daraus entwickelte Celluloid wird in Deutschland auch heute noch gelegentlich Zellhorn genannt  und wegen der Cellulose als natürlichem hochmolekularem Ausgangsmaterial mitunter zu den sog. halbsynthetischen Kunststoffen gezählt. Celluloid geht zurück auf Christian Friedrich Schönbein, 1799 in Metzingen geboren und 1868 in Baden-Baden verstorben, er war seit 1828 Professor für Chemie und Physik in Basel und erhielt das erste technisch genutzte Cellulosederivat 1845 bei Untersuchungen zur Chemie des von ihm entdeckten Ozons, das er zunächst für eine Verbindung des Sauerstoffs mit Stickstoff hielt. In diesem Zusammenhang studierte er die Einwirkung von Gemischen aus Salpeter- und Schwefelsäure auf viele organische Stoffe, u.a. auch auf Papier und Baumwolle, ohne damit die Natur des aus drei Sauerstoffatomen bestehenden Ozons (O3) aufklären zu können.

Es wird erzählt, dass Schönbein beim Experimentieren in der Küche seiner Wohnung in Basel (wo es damals noch keine Institutslaboratorien gab) im Jahre 1845 ein Gemisch aus Salpetersäure und Schwefelsäure verschüttete und die ätzende Flüssigkeit mit einer Baumwollschürze aufwischte.

Nach dem Auswaschen mit Wasser hängte er die Schürze zum Trocknen über den Herd, wo sie plötzlich und explosionsartig ohne Rückstand verbrannte. Dieser Vorfall brachte Schönbein auf die Idee, daraus einen Ersatz für das herkömmliche und stark rauchende Schießpulver zu entwickeln. Er machte seine Erfindung allgemein bekannt, arbeitete genaue Versuchsvorschriften aus und demonstrierte die Wirkung als Explosivstoff an zahlreichen Geschossfüllungen. Schönbein verkaufte seine Erfindung an John Taylor, der 1847 in England mit der Herstellung begann. Noch im gleichen Jahr kam es zu einer schweren Explosion in seiner Fabrik, bei der 20 Arbeiter starben. Trotz dieses und weiterer Unglücksfälle wurde die Produktion fortgesetzt, zumal das Militär rasch Interesse zeigte und die Bedeutung der nitrierten Cellulose als rauchlosen Sprengstoff erkannte. Die erste friedliche Nutzung fand Cellulosenitrat aber als Kunststoff: Der 1814 in Birmingham geborene Alexander Parkes stellte aus nitrierter Baumwolle unter Zusatz von Kampfer als Löse- und Weichmachungsmittel „Parkesin“ her, das er auf der Weltausstellung in London 1862 unter großem Beifall der Öffentlichkeit als Material für Medaillons, Schüsseln, Knöpfe, Messergriffe und Schreibstifte präsentierte. Trotz einer Auszeichnung als „hervorragendes Produkt“ erwies sich aber bald, dass Parkesin nicht stabil und dauerhaft haltbar war. Es verzog und zersetzte sich langsam, weshalb heute kaum noch historische Teile erhalten sind. Parkes´ Firma ging nach zahlreichen Reklamationen in Konkurs; die Erfindung lebte aber weiter durch John Wesley Hyatt (1837 - 1920), der in Amerika als „father oft he plastics industry“ gilt. Er entwickelte aus zwei Teilen Nitrocellulose und einem Teil Kampfer ein Celluloid genanntes Produkt, das zunächst als Ersatz für das knapper werdende Elfenbein zum Herstellen von Billardbällen gedacht war. 1872 gründete Hyatt zusammen mit seinem Bruder die Celluloid Manufacturing Company in Newark (New Jersey). Diese erste Celluloidfabrik der Welt stellte zunächst u.a. Gaumenplatten für künstliche Gebisse her. 1878 errichtete Hyatts Bruder die erste kontinentale Fabrik in Stains bei St. Denis in der Nähe von Paris.

Ausgangsmaterial für das Celluloid war zuerst Baumwollcellulose, später wurde sog. Nitrocellulose auch aus Bagasse, dem Rohrabfall aus den Zuckerrohrbetrieben der äquatorialen Länder, hergestellt. Heute nicht mehr verständlich ist, dass schon in den 1930er Jahren die Suche nach anderen Cellulosequellen begann, „wenn eines Tages die Wälder dem immer stärker werdenden Bedarf nicht mehr genügen können“, eine Befürchtung, die mit den vollsynthetischen Kunststoffen noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs endete.

Ein zusätzliches Problem ergab sich aus der begrenzten Verfügbarkeit des zunächst ausschließlich verwendeten Naturkampfers, da Kampferbäume etwa 50 Jahre brauchen, ehe sie einen regelmäßigen Ertrag liefern. Kampfer wurde damals fast ausschließlich in Japan aus Rinde und Holz des Kampferbaums erhalten; weshalb die Celluloidindustrie lange vom Monopol Japans abhängig war, was die Suche nach synthetischem Kampfer auslöste.

Der erste brauchbare Kunstkampfer kam in den USA 1896, in Europa 1906 durch die Chemische Fabrik A.G. vorm. E. Schering in Düsseldorf auf den Markt. Ausgangsprodukt war Terpentinöl, das zu 90 Prozent der Welterzeugung in USA hergestellt wurde, woraus sich bald eine neue Abhängigkeit ergab. Seit 1923 wurde Kampfer in Deutschland von einem Gemeinschaftsunternehmen der „Chemische Fabrik vorm. E. Schering“ und der „Rheinische Kampferfabrik GmbH“ hergestellt. Die Celluloidindustrie verbrauchte damals etwa 80 Prozent der Kampfererzeugung, andererseits waren aber die Aussichten ungewiss, da das Celluloid mehr und mehr durch andere Kunststoffe ersetzt wurde. 1878 wurde die erste deutsche Celluloidwarenfabrik Schreiner & Sieverts in Offenbach am Main gegründet. Sie begann mit importiertem, rot eingefärbtem Celluloid als Korallenimitation; anfangs der 80er Jahre folgten Broschen, Ohrringe und etwas später Steckkämme und Haarnadeln, die meist als Schildpattimitationen gefertigt wurden. Bald entstanden weitere Fabriken, die Zellhorn verarbeiteten; in Deutschland gab es 1906 170 Betriebe, von denen einer der größten die 1897 in Nürnberg gegründete „Bayerische Zelluloidwarenfabrik von Albert Wacker A.G.“ war. Die erste deutsche Rohstofffabrik wurde 1880 vom Besitzer der „Rheinischen Gummifabrik“ in Mannheim, Fr. Jul. Bensinger gegründet, die spätere „Rheinische Gummi- und Zelluloidfabrik in Mannheim Neckarau. Zunächst kaufte man Zellhornabfälle aus deutschen und französischen Zellhornwarenfabriken, die mit Lösemitteln behandelt und dann wiederverarbeitet wurden.

1881 begann die eigene  Herstellung von Zellhorn. 1928 beschäftigte die Fabrik rund 4.000 Arbeiter. Einige Jahre später gründete Ernst May (aus der Firma May und Edlich, Leipzig) eine zweite Fabrik zum Herstellen von Celluloid, vornehmlich zum Anfertigen von „Dauerwäsche“ wie Stehkragen, Hemden und Manschetten.

 Die Fabrikation wurde bald auch auf andere Celluloidartikel ausgedehnt, vor allem durch die Brüder Schmerber, die zuvor bei Hyatt in Amerika gearbeitet hatten. 1887 wurde die später zweitgrößte Fabrik, die „Deutsche Zelluloidfabrik“ in Eilenburg bei Leipzig gegründet. Noch vor dem ersten Weltkrieg gab es in Deutschland acht größere Zellhornfabriken mit einer jährlichen Erzeugung von 100 Mio. Kilogramm. 1927 führte Deutschland unverarbeitetes Zellhorn im Wert von 15 Mio. Mark aus. Daneben bestanden zu jener Zeit nur noch in wenigen Ländern (Frankreich und USA je drei, in Japan zwei sowie in England und Österreich je eine) große Rohzellhornfabriken, so  dass der Schwerpunkt Mitte der 1920er Jahre immer noch in Deutschland lag. Fünf Zelluloidfabriken mit einer Jahresleistung von 15.300 Tonnen und damit gut 80 Prozent der gesamten deutschen Produktion kamen nach 1925 durch Firmenfusionen unter die Kontrolle der I.G. Farben, während die zu dieser Zeit noch unabhängigen fünf Firmen zusammen nur noch 3.300 Tonnen produzierten. Die I.G. Farben begannen gleichzeitig, den Aufwand für Fabrikation, Verwaltung und Verkauf zu reduzieren, wozu eine zentrale Verkaufsgesellschaft in Berlin geschaffen wurde.

Dadurch konnten die Allgemeinkosten um über 60 Prozent gesenkt und das in den Lagern festgelegte Kapital vermindert werden. Da der Konzern auch die Fabrikation rationalisierte und einen großen Teil der Rohmaterialien wie Kampfer, Farbstoffe, Lösemittel und Weichmacher selbst herstellte und auch zu Halbzeug wie Stäben, Rohren und Platten sowie zu Fertigartikeln verarbeitete, dürfte „keine Firma der Welt diesem Konzern gewachsen sein“, wie es in einem zeitgenössischen Bericht von 1931 heißt. Allerdings bereitete die Brennbarkeit des Celluloids zunehmend Probleme. Die leichte Entflammbarkeit und der steigende Preis des Celluloids führten daher schon im 19. Jahrhundert zur Suche nach Ersatzstoffen. Dafür bot sich die feuersichere Acetylcellulose (Celluloseacetat) an, die sich schon als Zellon zum Glasersatz für viele Anwendungen (Auto, Luftfahrt, Schutzbrillen, Signalanlagen, Puppen, Kämme, Kinofilm (Zellitfilm)) bewährt hatte.

Bakelit

Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beginnt die Neuzeit der Kunststoffgeschichte mit den ersten vollsynthetischen Kunststoffen, von denen die meisten bald auch in Betrieben an der Kunststoffstrasse des Landkreises verarbeitet wurden, wo schon früh die Möglichkeiten dieses neuen Werkstoffs erkannt worden waren. Bereits in den 1880er Jahren setzte die Suche ein nach den Ersatzstoffen für den als Ausscheidung von Schildläusen in Indien und Ostasien gewonnenen Schellack, der für Lacke, Polituren und Isolierstoffe, ab 1896 vor allem aber als Schallplattenmasse gebraucht und daher immer knapper und teurer wurde.

Um 1900 studierte der aus Belgien stammende, 1890 nach Amerika ausgewanderte und dort durch die Erfindung eines neuartigen Photopapiers zu einem beträchtlichen Vermögen gekommene Leo Hendrik Baekeland die Redaktion von Phenol mit Formaldehyd. Es ging ihm dabei darum, durch gleichzeitige Anwendung von Wärme und Druck harte, sehr wärmebeständige und unlösliche Formteile herzustellen; er entwickelte so den ersten, von ihm selbst Bakelit genannten härtbaren (duroplastischen) Kunststoff, der dann ab 1910 durch vertragliche Vereinbarungen bei den Rüttgerswerken in Erkner bei Berlin produziert wurde. Das mit dem bis heute geschützten Namen Bakelit erzeugte Phenolharz diente seit 1933 in Deutschland millionenfach als Material für das Gehäuse des „Volksempfänger“ genannten Radios und wird heute noch im Landkreis Darmstadt-Dieburg bei verschiedenen Firmen verarbeitet.

Galalith

Noch vor dem Bakelit entstand gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts als synthetischer Kunststoff das unter dem Markennamen Galalith (Milchstein) bekannt gewordene Kunsthorn. Interessant ist die Entstehungsgeschichte dieses aus Milch als „nachwachsendem“ Rohstoff erhaltenen Kunststoffs. Sein Erfinder, der Schreibwarenhändler und Inhaber einer Geschäftsbücherfabrik Wilhelm Krische in Hannover, erhielt 1897 den Auftrag, eine „weiße“, abwischbare Schiefertafel zu entwickeln, mit der die Schulanfänger das Schreiben wie auf Papier lernen sollten. Krische und der von ihm hinzugezogene Chemiker Adolf Spitteler erfanden aber statt der Schreibtafel ein Verfahren „zur Herstellung hornartiger Massen“ aus dem Milcheiweiß Kasein durch Härten mit Formaldehyd. Bis zur technischen Fabrikation waren langwierige Entwicklungsarbeiten und zum Bau der erforderlichen Maschinen und Fabrikationshallen hohe finanzielle Mittel notwendig, bis schließlich 1903 die Produktion aufgenommen werden konnte; um 1912 wurden in Deutschland jährlich etwa 10 Tonnen Galalith erzeugt. Nie ganz gelöste Probleme waren die Beschaffung des Rohstoffs Kasein in konstanter Qualität aus der eigentlich als Nahrungsmittel dienenden Milch, aber auch der lange dauernde Härtungsprozess, der bei den vielen angebotenen Artikeln und Farbtönen recht unterschiedliche Lieferzeiten verursachte. Kunsthorn zeichnete sich aber durch einen bisher ungekannten Reichtum an einstellbaren Farben und gute und dauerhafte Polierbarkeit aus und eignete sich wie Naturhorn als Schnitzstoff sowie zum Herstellen von Knöpfen und Schmuckstücken. Aber schon Anfang der 1930er Jahre ging der Absatz des Galaliths wegen der steigenden Bedeutung, vor allem aber der einfacheren Formbarkeit der Phenolharze und der aufkommenden Thermoplaste immer mehr zurück, so dass das Kunsthorn nach dem zweiten Weltkrieg von wenigen kleineren Produzenten abgesehen völlig aus der Palette der Kunststoffe verschwand. Umso bemerkenswerter sind die im Museum in Ober-Ramstadt ausgestellten Objekte, unter denen den in den 1930er Jahren in Heimarbeit durch Schnitzen entstandenen sog. Winterhilfsabzeichen besondere Bedeutung zukommt.

Plexiglas

In den 1920er Jahren entstanden, wie oben bereits erwähnt, aus den Forschungsarbeiten bei Röhm & Haas in Darmstadt Polymere aus Acrylsäure und ihren Derivaten, von denen das 1934 unter dem Namen Plexiglas auf den Markt gebrachte Polymethylmethacrylat (PMMA) die größte Bedeutung erlangt hat. Weil sich der neue Werkstoff sehr gut für Schmuck oder Haushaltsartikel eignete, verwerteten viele kleine Handwerksbetriebe im nahegelegenen Odenwald während des zweiten Weltkriegs zunächst Plexiglasabfälle für die Serienfertigung. Die Firma G.F. Heim Söhne in Ober-Ramstadt zeichnet sich bis heute darin aus, dass sie ihre Eier- und Joghurtlöffel, Eierbecher oder Salatbestecke aus Plexiglasplatten stanzt, plastisch verform und dann in vielen Arbeitsgängen poliert. Im Gegensatz zu heute viel günstiger spritzzugießenden Produkten, erhalten die einfachen Formen dadurch eine unvergleichlich seidig und fließend schimmernde Oberfläche, die in ihrer materiellen Wertigkeit den kunstvollen Schildpattprodukten vom Anfang der Firmengeschichte in nichts nachstehen. 40.000 bis 50.000 Eierlöffel verlassen jährlich die kleine Manufaktur in Ober-Ramstadt in alle Welt.

Literatur

  • D. Braun: Kleine Geschichte der Kunststoffe. Hanser Verlag, München, 2. Aufl. 2017
  • Rotperl und Cubana. Start in die Kunststoffe. Hrsg. Kunststoff-Museums-Verein. Verlag für Messepublikationen, München, 1992
  • E. Trommsdorf: Dr. Otto Röhm, Chemiker und Unternehmer. Econ Verlag, Düsseldorf, Wien, 1976
  • 100 Jahr Zukunft. Die Röhm GmbH von 1907 bis 2007. Firmenschrift
  • Chr. Stark: Die heutige Situation der deutschen Zelluloidindustrie. In: Kunststoffe 21, 1931, S. 97-98
  • G. Hübener: Kammfabrikation. In: Kunststoffe 3, 1913, S. 282-286 und 303-308
  • Original Resopal. Die Ästhetik der Oberfläche. Hrsg. Romana Schneider, Ingeborg Flagge. Jovis Verlag, Berlin, 2006

Wir danken Herrn Prof. Dr. Braun für die Bereitstellung und Zustimmung zur Veröffentlichung des Textes sowie Herrn Gerd Ohlhauser für die Übernahme der Aktualisierung.